Das Digitale bleibt
unser Verbündeter
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Soziale Netzwerke sind einst mit dem Versprechen von Gemeinschaft und Partizipation angetreten, heute werden sie in Europa oft als Irrweg für die Demokratie empfunden. Die Anthropologin Payal Arora misst den digitalen Technologien jedoch eine nicht zu unterschätzende Bedeutung bei: Für die jungen Generationen in illiberalen Gesellschaften öffnen sie rare Räume der Selbstverwirklichung.
In den letzten zehn Jahren habe ich das Leben von Hunderten jungen Menschen aus Indien, Bangladesch, Brasilien und Namibia verfolgt und dabei eine Gemeinsamkeit festgestellt: Sie lieben es, online zu sein, und sie erstellen leidenschaftlich gern Inhalte für digitale Plattformen. Ihre Ziele gleichen sich: Sie möchten eine Gemeinschaft jenseits ihres ursprünglichen sozialen Umfelds aufbauen, Spaß haben, aufsteigen und – am wichtigsten – durch ihr digitales Wirken einen bleibenden Eindruck in der Welt hinterlassen. Diese kreativen Aufsteigerinnen sind ambitionierte Influencer. Sie möchten von ihrem Online-Publikum anerkannt und respektiert werden, sie wollen gesehen und gehört werden . Ob sie Saris1 auf Facebook Live bewerben oder eingelegtes Gemüse aus dem ländlichen Indien über soziale Netzwerke an die indische Diaspora verkaufen: Für sie ist es das Sprungbrett in eine bessere Zukunft.
Tatsächlich wächst die Creator-Economy in den Ländern Asiens und Südamerikas rasant und wird voraussichtlich bald die der Vereinigten Staaten überholen – was wenig überrascht, da 90 Prozent der jungen Menschen in diesen Teilen der Erde leben. Viele von ihnen wachsen in illiberalen, nicht-demokratischen, wirtschaftlich benachteiligten sowie patriarchalen und unsicheren Verhältnissen auf, denn nicht einmal 13 Prozent aller Staaten weltweit sind liberale Demokratien. Staat, Wirtschaft und Familie bieten ihnen kaum attraktive Möglichkeiten für Arbeit, Liebe, Freizeit und Bildung – kurzum für Selbstverwirklichung. Stattdessen ist das Digitale trotz aller Schattenseiten zu ihrem Verbündeten geworden.
Influencer der Pessimismus-Paralyse
Diese Empfindung steht in starkem Kontrast zur lähmenden Hoffnungslosigkeit in Europa gegenüber allem Digitalen, die ich an anderer Stelle als Pessimismus-Paralyse beschrieben habe. Täglich warnen uns etwa Schlagzeilen davor, wie Big Tech-Unternehmen2 unsere Demokratie zerstören und soziale Medien die psychische Gesundheit unserer Kinder ruinieren. Beim Thema Künstliche Intelligenz (KI) rollt eine regelrechte Welle der Angst über uns hinweg: Unsere Arbeitsplätze oder gar unser Planet seien durch diese Innovation bedroht. In diesen Debatten projizieren wir in Europa unsere Ängste kontinuierlich auf den Rest der Welt. Wir tun dies aus einer Position der (relativen) Sicherheit und Freiheit, für die ein Großteil der Welt uns beneidet. Pessimismus scheint mir ein Privileg derjenigen zu sein, die sich Verzweiflung leisten können. Der Rest der Welt muss hoffnungsvoll bleiben, wenn er die Kontrolle über seine eigene Zukunft behalten möchte.
Es gibt im Westen inzwischen viele „Influencer“, die aus ihrer komfortablen Position heraus den Weltuntergang prophezeien. Sie treten etwa in Gestalt eines Tech-Gurus in Erscheinung, der den KI-Interessierten eine Dosis Schuld einflößt, nach dem Motto: „Wussten Sie, dass ChatGPT für alle zwanzig bis fünfzig beantworteten Fragen eine Flasche Wasser trinkt?“ Andere erinnern ihre Follower an deren moralische Schwäche, weil sie auf Facebook, X und Instagram bleiben – während sie selbst ihre Anhängerschaft durch genau diese Kanäle führen. Und in den letzten Jahren habe ich mit zahlreichen hochrangigen Vertretern von Hilfsorganisationen und Denkfabriken gesprochen, die moralisch damit ringen, ob sie die Offline-Bevölkerung im „Globalen Süden“ mit der Online-Welt verbinden sollten. Schließlich würden sie dadurch eine Maschinerie der Ausbeutung mit diesen vulnerablen Communities füttern. Wäre es daher nicht am besten, man würde sie vor dieser neuen Stufe des Datenkolonialismus schützen? Sich selbst scheinen westliche Intellektuelle dabei offensichtlich als immun gegenüber derartigen Strukturen der „Unterdrückung“ und der Überwachung zu sehen.
Mit ihrer täglichen Dosis Angst und Schuld verbreiten einflussreiche Stimmen wie diese im Westen innerhalb der jungen Generation ein Klima der Furcht. In einem Seminar über inklusive Technologie beantwortete vor kurzem die Mehrheit meiner Studierenden die Frage, ob es möglich sei, inklusive Werte in Technologie zu integrieren, mit „Nein“. Sie wollen gar keinen Platz am Tisch, denn allein die Auseinandersetzung mit KI wird bereits als Komplizenschaft mit Big-Tech-Unternehmen gewertet. Der einzige Weg nach vorne sei, das „System“ ganz zu zerstören. Oder „Opting-Out“, also radikal aussteigen, aus dem Regime der digitalen Unterdrückung, wie eine andere Studentin vorschlägt. Dieser ideologische Dogmatismus steht im Kontrast zur unbequemen Realität, denn: KI ist Teil ihres täglichen Lebens, sie beeinflusst schon jetzt, wie sie sich bewegen, wie sie lieben, wie sie lernen.
Opting-In –
Sozialer Umbruch von unten
Die Perspektive meiner Studierenden unterscheidet sich diesbezüglich deutlich von etwa gleichaltrigen Menschen, denen ich in meiner Forschung begegnet bin. Während der Pandemie beauftragte die Abteilung für Innovationsdienste des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) mich damit, das digitale Verhalten venezolanischer Geflüchteter in Brasilien zu untersuchen. Ich stellte fest, dass die Flüchtlinge keineswegs an den „Opt-Out“ dachten, sondern dringend Teil der Online-Welt sein wollten. Denn mit dem Internet verbunden zu sein, war Gold wert. Hugo, ein 19-jähriger homosexueller Venezolaner, bewahrte seine Zuversicht, indem er seine Verletzlichkeit in Facebook-Posts zum Ausdruck brachte. Nach vielen Verfolgungs-Erfahrungen konnte er auf diese Weise zu sich selbst finden und ein Gefühl der Selbstliebe entwickeln.
Man selbst zu sein, ist ein bescheidener, aber wesentlicher erster Schritt zu einem erfüllten Leben. Für die große Mehrheit der Jugendlichen spielt dies eine wichtige Rolle, da sie aufgrund ihres sozioökonomischen Status, ihrer Nationalität, Sexualität und ihres Geschlechts in ihrer Menschenwürde eingeschränkt werden. Gesetze und soziale Normen entmenschlichen ganze Bevölkerungsgruppen – mehr als 60 Länder kriminalisieren auch im Jahr 2025 weiterhin Homosexualität, einige gar mit der Todesstrafe wie in Uganda und Jemen. Mädchen und Frauen stehen juristisch und sozial auf der Stufe von Kindern, in manchen Teilen des Mittleren Ostens nicht einmal das. Angesichts von Taliban-Beschlüssen, Frauen und Mädchen in Afghanistan den Zugang zu Schulen, öffentlichen Parks, Schönheitssalons und Arbeitsplätzen zu verbieten, überrascht es nicht, dass sie von der digitalen Welt begeistert sind. Sie bietet eine Möglichkeit, um gegen ihre Verbannung aus dem öffentlichen Raum anzukämpfen.
Europäische Alternativen zu Big Tech haben sich nicht etabliert
Die digitalen Dienste der Big Tech mögen ausbeuterisch sein, sie können aber sehr wohl auch befähigend und ermächtigend wirken. Während sie autoritären Staaten umfangreiche Möglichkeiten zur Überwachung kritischer Bürger bieten, dienen sie gleichzeitig als wichtige Plattformen zur Selbstverwirklichung. So ist die verwirrende Realität, in der wir leben. Wir können diese Tatsachen nicht leugnen, denn dann würden wir von einer falschen Ausgangslage ausgehen, wenn wir digitale Plattformen gestalten und regulieren wollen. Wir müssen auch den emanzipatorischen Wert, den sie schöpfen, gleichermaßen und fair mitbetrachten. Wenn europäische Staaten ihre Gestaltungsfreiheit gegenüber großen Konzernen zurückgewinnen und digitale Tools stärker am Gemeinwohl ausrichten wollen, müssen sie ihre Bürgerinnen als Teil einer globalen Öffentlichkeit verstehen. Es gilt, Lösungen zu entwickeln, die menschliche Nähe, Freude, Innovation und Entfaltung fördern und gleichzeitig Risiken und Schäden eindämmen.
Wenn wir in Europa über Alternativen zu Big Tech sprechen, geht es eher um Graswurzel-Initiativen, die sich gegen den Markt stellen. Bisher mussten wir oft beobachten, dass solche Alternativen nicht skalierbar sind. Im Herbst 2022 waren Geert Lovink3 und ich bei einer Veranstaltung im V2_, Lab for the Unstable Media4 in Rotterdam. Eine Zuschauerin fragte ihn, ob er hoffnungsvoll in die Zukunft blicke. Lovink, der sich selbst inzwischen als „Medienpessimist“ bezeichnet, antwortete niedergeschlagen, dass seine jahrzehntelange aktivistische Arbeit an alternativen Plattformen nicht zu deren Etablierung führte. Mit diesem düsteren Ausblick auf die digitale Zukunft ist er nicht allein.
Hoffnung als moralischer Imperativ
Der derzeitige geopolitische Gegenwind hat die Europäische Union dazu gezwungen, ihren Blick verstärkt auf alternative staatliche Technologiemodelle zu richten – insbesondere auf jene, bei denen der „Globale Süden“ inzwischen eine Vorreiterrolle eingenommen hat. So orientiert sich der sogenannte EuroStack5 in auffälliger Weise am indischen Vorbild, dem India Stack6 – einer staatlich initiierten, offenen digitalen Infrastruktur, die auf digitale Souveränität abzielt. Dennoch bleibt die EU in vielerlei Hinsicht gefangen in einer selbstbezogenen Haltung – sei es im Umgang mit digitalen Tools, der jungen Generation oder ihren Mitgliedstaaten. Statt auf Anreize setzt man allzu oft auf Reglementierung. Wenn Europa tatsächlich eine globale Führungsrolle beim Schutz demokratischer Werte im digitalen Raum anstrebt, muss es sich von seiner Festungsmentalität lösen.
Niemand bestreitet, dass wir in schwierigen Zeiten leben. Die Hoffnung nicht zu verlieren, ist für viele ein Kraftakt. Während berechtigte Bedenken unsere Ängste gegenüber dem Digitalen befeuern, dürfen wir aber die junge Generation im „Globalen Süden“ mit ihren Gefühlen, Einstellungen und Handlungsspielräumen nicht aus den Augen verlieren. Wir müssen sie berücksichtigen, um sicherzustellen, dass wir nicht versehentlich das zerstören, was sie am meisten schätzen – rare Räume der Selbstverwirklichung. Der außergewöhnliche Hunger junger Menschen nach digitaler Präsenz ist vergleichbar mit ihrem Hunger nach mehr Freiheiten. Etwas Schönes inmitten von Hässlichkeit zu teilen, bewahrt die menschliche Würde. Momente der Freude, Inspiration und Unterhaltung mit digitalen Medien zu schaffen, kultiviert Hoffnung für die Zukunft. Es ist nicht naiv, optimistisch in unsere digitale Zukunft zu blicken. Es ist unser moralischer Imperativ, sie mit Hoffnung zu gestalten.
Übersetzung: René König
Fußnoten
- 1 ) Traditioneller Wickelrock, der in südasiatischen Ländern wie Indien, Sri Lanka, Bangladesch oder Nepal bis heute sehr beliebt ist. ↩
- 2 ) Als „Big Tech“ werden die weltweit einflussreichsten IT-Unternehmen bezeichnet. Ihre Programme, Onlinedienste, Betriebssysteme und Geräte dominieren den digitalen Markt. ↩
- 3 ) Geert Lovink ist ein niederländisch-australischer Medienwissenschaftler und Professor für Kunst und Netzwerkkulturen an der Universität Amsterdam. Er gilt seit den 1990er-Jahren als wichtige Stimme im medientheoretischen Diskurs über das Internet. ↩
- 4 ) V2_, Lab for the Unstable Media ist ein interdisziplinäres Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Rotterdam. Es wurde 1981 gegründet. ↩
- 5 ) EuroStack ist eine Initiative von IT-Unternehmen, EU-Abgeordneten und Netzaktivisten mit dem Ziel, eine souveräne digitale Infrastruktur in Europa aufzubauen. Begründet wurde das Projekt unter diesem Namen auf einer Digitalkonferenz in Brüssel im September 2024. ↩
- 6 ) India Stack heißt das seit 2009 kontinuierlich entwickelte Projekt einer digitalen Open-Source-Infrastruktur in Indien. Darin wurden etwa Dienstleistungen der öffentlichen Verwaltung sowie Finanzdienstleistungen digitalisiert. IT-Expertinnen und Bürgerrechtler bemängeln den Datenschutz einiger Software-Anwendungen aus dem Stack. ↩