Kulturstiftung des Bundes
Zurück zum Start
Nr. 1/2025

Anfangen.
Und wie wir
damit nicht aufhören
können

Maxi Obexer

Essay

Lesezeit 16 min.

00:00/00:00

Während ich an diesem Text schreibe, ist die Person, mit der ich die längste Zeit meines Lebens verbracht habe, erkrankt, und später für eine Operation ins Krankenhaus gebracht worden. Seither ist alles in der Schwebe. Ein ganzes Leben. Ich sitze auf einem Stuhl und warte darauf, dass sie ihre Augen öffnet und mich erblickt.

Am Monitor fließen die Herzfrequenzen in schöner Linearität dahin und schnellen im gewohnten Takt in die Höhe. Ich staune, wie viel Zuversicht diese bewegte Grafik vermittelt. Gegen die Push-Nachrichten, die an einem einzigen Nachmittag im Januar 2025 ins Handy zischen, ist das regelmäßig ausschlagende Piepen des Geräts, dessen Ton sorgfältig eingestellt wurde, beruhigend. Es verharrt am Pulsschlag eines einzelnen Lebens.

Niemanden von den Mächtigen, Reichen oder Rechtsextremen, die sich gerade die Klinke in die Hand drücken, oder jene, die sich mit einer Kettensäge präsentieren, stelle ich mir besonders hilfreich vor im Operationssaal. Stattdessen waren es Menschen, die in größter Präzision zusammenwirkten, um das Leben meiner Mutter wiederherzustellen, all jene, die es weiterhin bewachen. Nichts ist selbstverständlich, am wenigsten das Gute.

Nichts ist selbstverständlich, am wenigsten das Gute.

Das angefangene Jahr hat es schwer, ein neu angefangenes zu bleiben. Schon greifen die alten Geister aufs Neue über, mit ihrer Unberechenbarkeit. So vieles wollen sie zerschlagen von dem, das einst errichtet wurde mit viel gemeinsamer Anstrengung. So vieles soll vom Tisch gefegt werden, das einmal sorgfältig erdacht wurde von so Vielen.

So viele Untergänge. Tatsächliche und solche, die beschworen und herbeigerufen werden aus strategischen Gründen. Für die Wählergunst. Sie nehmen Kontur an in der Wirklichkeit; wie real sie werden, wird noch zu erfahren sein. So viele Beschuldigungen. Und so viele falsch Beschuldigte.

Inmitten der niederdrückenden Nachrichten gab es eine, die herausstach: Die Menschen geben Zeichen, dass sie am Leben sind. Und dass sie es bleiben wollen.

Als ich gefragt wurde, mich über die eigene künstlerische Verortung angesichts der politischen Krisen zu äußern, stimmte ich zu. Denn es erlaubt eine Schärfung angesichts einer gegenwärtigen Zeit, in der so Vieles und so Viele in Bedrängnis geraten sind, auch wir.

Ich habe es mir leichter vorgestellt.

Was kann heranreichen an die Kräfte, die im Großen wüten?
Dass wir nicht verstummen können, setze ich voraus.

Was kann heranreichen an die Kräfte, die im Großen wüten?

Und doch ist der politische Zustand einer, der leicht zum Verstummen verleitet.
Oder auch zum bewussten Verzicht. Darauf, in das abstrakte Feld einer Schachbrettlogik hineinzugeraten, die nur zwei Seiten kennt, doch nicht das verwobene Lebensfeld, in denen Menschen unterwegs sind. So viele von ihnen ausgeliefert und ohne Schutz, mittendrin.

In einer abstrakten Sprache, die es entweder schon ist – oder so verstanden wird: politisch-rhetorisch, als Instrument gebraucht von solchen, die unmissverständlich wissen, was sie von ihr wollen. Angesichts einer Sprache, die unter Beobachtung steht und droht, jene zum Bauernopfer zu machen, die diese Schachbrettlogik unterwandern, die am Leben festhalten, für die, die bedroht sind. Wenn wir uns an ihre Seite stellen, und nur hier sehe ich uns, so kann es, wie Zadie Smith schreibt, nur in einer Sprache sein, die sich, je nach Situation, erweitern und engziehen lässt. Auf die Person hin, die im Augenblick bedroht ist. Auf die Menschen, die es gerade sind. In einer Sprache, die sich auf beide Seiten hin ausdehnen kann.  

„Practicing our ethics in the real world involves a constant testing of them, a recognition that our zones of ethical interest have no fixed boundaries and may need to widen and shrink moment by moment as the situation demands.”1

Wir bewegen uns inmitten von Sprachen, die feindlich gestimmt sind. Sprachen, so selbsterklärend, dass eine Verständigung ausgeschlossen scheint, wie eine gemeinsame Sicht auf die gegenwärtige Realität und ihre Nöte. Wie uns verständigen, wenn so Vieles geleugnet wird? Wie eine beschädigte Erde in Schutz nehmen, wenn ihre Gefährdung umso heftiger bestritten wird, je regelmäßiger Naturkatastrophen sie zerstören? Wie die Demokratie verteidigen, wenn sie gerade von Vielen demokratisch abgewählt wird?

Vieles ist in der Schwebe. In einer Zeit der Ungewissheit und der Unsicherheit. In der oft im großen Stil nach Lösungen gegriffen wird, die es nicht gibt. Die sich widersprechen. In einer Zeit, in der sich vieles erst abzeichnet. Oft auch ohne Lösungen.

Vielleicht ist, wie Hannah Arendt es beschreibt, „das Licht des Öffentlichen zu überhell, zu wenig dem Verborgenen zugeneigt: […] weil das überhelle Licht des Öffentlichen die Verborgenheit vernichtet, welche das Leben der Sterblichen, wie alles Lebendige, gerade für sein Lebendigsein braucht.“2  

Ich bemerke, wie sich mir eine Sprache verweigert, die Lösungen, Erklärungen, Urteile verkündet, die nur wieder auf dem Feld der Vorwürfe und Beschuldigungen landet. Auch das im großen Stil. Wie will ich sprechen, was will ich „entwerfen“, welche Welt, welche Menschen lege ich zugrunde?

Ich habe nie sonderlich an Dystopien geglaubt, zu nahe sind sie mir gerade an den kalkuliert beschworenen Untergangsphantasien der Rechtsextremen, die ihr Denken allgemein am Rand des Abgrunds ansiedeln, um Schuldige zu bestimmen, sich selbst als Retter. Ich glaube nicht sonderlich an die pessimistische Geste, die mit verschränkten Armen das Versagen der anderen beklagt. Ich glaube auch nicht an die Anklage, umso weniger, wenn sie auf die Gegenseite verzichtet. Ich glaube an die Realität und möchte ihrem schlechten Ruf widersprechen. Als Visionärin zwinge ich mich, sie ernst zu nehmen, sie anzusehen, zu durchdringen, ich erforsche sie und finde so Vieles, das ihrem Abgesang widerspricht: Gutes, Schönes, Zartes und Zerbrechliches – Kostbares, eben weil es zart ist und zerbrechlich.  

Ich glaube an die Realität und möchte ihrem schlechten Ruf widersprechen.

Es gilt, eine Sprache zu finden, die Bewegung, die Leben ins Spiel bringt, wo andere Sprachen töten. So, wie es immer darum geht, eine andere Sprache zu finden. Eine andere Sprache als die des Untergangs. Eine Sprache des Lebendigseins. Eine Sprache, die einen Anfang setzt. Vergleichbar mit dem Anfang, wie ihn das Leben immer – und immer wieder anbietet.

Der Anfang eines Lebens ist ein gänzlicher und wahrer neuer Beginn, so beschreibt ihn Hannah Arendt in „Vita activa“. Einzig und allein durch die Geburt, durch die nackte blanke Ankunft in dieser Welt, ist der neue Mensch ein Anfang. Im Handeln, im Vorgehen, im Sprechen ist der Anfang enthalten und seine Möglichkeiten, die dieser mitgibt.

„Die Tatsache, dass der Mensch zum Handeln im Sinne des Neuanfangens begabt ist, kann daher nur heißen, dass er sich aller Absehbarkeit und Berechenbarkeit entzieht, dass in diesem einen Fall das Unwahrscheinliche selbst noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat, und dass das, was „rational“, d.h. im Sinne des Berechenbaren, schlechterdings nicht zu erwarten steht, doch erhofft werden kann.“3

Dass er Neues in Bewegung setzen kann, dass er handeln kann, dass er abweichen kann, all dies kennzeichnet eine Freiheit, die durch jeden Menschen immer wieder neu gegeben ist. Es ist eine Freiheit, die Hannah Arendt im kleinstmöglichen Feld beschreibt. Im Kleinstmöglichen macht sie das Größtmögliche aus.

„Die Erschaffung des Menschen als eines Jemands, fällt mit der Erschaffung der Freiheit zusammen.“4

Mit der Freiheit, die der Anfang enthält, ist nicht eine freie Welt gemeint, in die ein Neuankömmling hineingeboren wird. Die Erfahrung von Vernichtung und Ermordung von Menschen und Welten ist ihr Hintergrund; die Banalität, in der es geschah. Als wäre es eine einfache Geste, und nicht das Schwierigste, macht Hannah Arendt auf einer Landkarte der mannigfachen Zerstörung den Moment aus, in dem die Freiheit entsteht, immer wieder neu entsteht, und weicht nicht ab – vom einzelnen Menschen und dem Anfang, der ihm innewohnt.

Es ist kein autonomes Dasein. Wir sind auch nicht die Verfasser unserer Geschichte. Aber wir beginnen sie. Mit dem, was wir in Bewegung setzen. Und hier sind wir Verantwortliche. Wir sind verantwortlich für unser Handeln, für unsere Entscheidungen. Für die Sprache, die wir verwenden.

In die Sprache einzusteigen bedeutet für mich als Schreibende nichts anderes, als Anfänge zu setzen. Jeden Stein umzudrehen und das Sprachwerk zu lüften, die bestehenden Erzählungen und vor allem ihre Narrative zu hinterfragen, die ganz ungefragt Bedeutungen setzen und anderes für bedeutungslos erklären.

Nur so entstehen die anderen Geschichten. Es bedeutet mitunter, mich für das Waghalsige zu entscheiden, das noch nicht Gewusste, das Ungewohnte, auch für das Experiment.

Es geht um nichts Geringeres als darum, einen Anfang zu setzen und dabei der Welt nicht zu entfliehen. Sie nicht aus den Augen zu lassen.

Eine andere Sprache zu finden, kann nur bei genauer Kenntnis der Bedingungen erfolgen, die sie verhindern wollen.

Der Anfang kann jederzeit gesetzt werden, mitten hinein. Als könnte – als müsste vielmehr für einen kurzen Moment die ganze Geschichte vergessen werden, die Umklammerungen der Sprache. Man kann gar nicht anders, als sich mitten hineinzustellen, eine Lücke schaffen, oder die vorgefundene nutzen und sie ausdehnen. Und in sie hinein das Licht einer ganz anderen Geschichte zum Leuchten zu bringen.

Denn die Welt ist – und war immer schon eingerichtet.

Schon immer – und immer war sie bereits da. Mit ihrer Geschichte der ungleichen Chancen. Die Sprache war geformt, die Einteilungen waren vorgenommen. Und schon immer gab es die, die nicht gefragt wurden, die nicht gewollt waren, die nicht gehört werden sollten, die ungefragt blieben und ungesehen.

Die eisernen Regeln, die stummen Gesetze: sie sind nicht im Einklang mit demokratischen Spielregeln getroffen worden. Im Gegenteil, dass sie aufrechterhalten wurden und befolgt, verlangte, dass es stillschweigend geschah. Nur Sprache, die sie befragte, sie zur Rede stellte, erwirkte eine Befreiung. Einen Anfang.

Wir glauben an Logiken solange, bis uns jemand von ihrer Zweifelhaftigkeit überzeugt.

Die Kriegslogik wäre als Beispiel zu nennen, die den großen Teil der antiken Tragödien beherrscht, also unser kulturelles Selbstverständnis. Naheliegend, dass wir im dramatischen Plot lange auf den absolut unlösbaren Konflikt hingeschrieben haben. Wir lieben ihn und seine Abgrundhaftigkeit. Was treibt uns an? Denkbar ist auch die Sehnsucht, wie sie zuletzt Céline Sciamma als Ausgangsmoment für eine Geschichte vorstellt. In ihren Lektionen spricht sie sich gegen eine Homogenisierung der Phantasie aus. Gegen einen, auf einen einzigen dramatischen Höhepunkt zustrebenden Konflikt.5

Von ungewohnten Gedanken gehen ungewohnte Geschichten aus, die nur solange ungewohnt sind, solange sie nicht erzählt wurden. Womit ich sagen möchte: Das Ungewohnte hat dieselbe Berechtigung, wie das Gewohnte.

Das Ungewohnte hat dieselbe Berechtigung wie das Gewohnte.

Dass das erste Werkzeug, das die nun aufrecht gehenden Menschen in die Hand nahmen, eine Waffe war, glaubte ich solange, bis Ursula Le Guin mit ihrem Essay „Am Anfang war der Beutel“6 die Tasche ins Spiel brachte. Das Tragen bekam Bedeutung, die Fürsorge. Hätten wir überhaupt überlebt? Hätte irgendetwas überlebt, wenn es allein die Gewalt gewesen wäre, die uns bestimmt hat? Waren es nicht viel mehr das Vertrauen – und die Liebe? Von da aus lassen sich ganz andere Erzählungen finden. 

Die menschliche Gewalt ist beherrschend. Wirklich? Ja. In der Tat.

Sie setzt mit der Herabsetzung an, der Erniedrigung, der Unterwerfung, sie setzt sich fort über Schläge, sie endet oft in der Ermordung. Lange Zeit war es üblich, sich über Frauen und Kinder zu erheben, ist es teilweise noch. Allerdings wurde die Legitimation entzogen.

Die Gewalt im Umgang mit Tieren gilt noch immer als durchweg natürlich.

Sie beginnt vor dem Töten; vor dem Töten schon wird so getan, als hätte es nie eine Beziehung gegeben. Dabei war sie die Grundlage. Als sie sich auf eine gemeinsame Behausung einließen, auf die täglichen Abläufe, auf Berührungen, auf eine gemeinsame Sprache – sie trafen eine Verabredung, Menschen und Tiere.

Wenn wir die Seite der Tiere einbeziehen, allein deren Blick auf uns betrachten: dann wird klar, es ist Vertrauen. Sie vertrauen uns, und sie hören nicht so schnell damit auf.

Sie erinnern uns an uns, an die, die – genauso wie sie, Lebewesen sind, zur Liebe befähigt, zur Fürsorge, zum Trost. Sie kennen uns. Sie wissen, wer wir sind. Sie erinnern uns an den gemeinsamen Anfang. Wer allein an die gewaltvolle Züchtigung glaubt, und nicht auch an die Möglichkeit einer gegenseitigen Zähmung im Sinne des Sich-Vertraut-Machens, übersieht – und übergeht sie weiterhin. Hat vielleicht kein Auge für die Zartheit einer jungen, aus dem Nest taumelnden Katze, die zum ersten Mal ins Sonnenlicht blinzelt, noch halb blind, und doch vertraut mit der Welt, mit der Hand, die sich ihr entgegenstreckt. Ihre Zuversicht, umgeben von so viel Unberechenbarkeit.

Wer nur Gewalt sieht, wird zu einem Ende der Gewalt nicht viel beitragen können, folgt vielmehr ihrem Lauf. Um wieder mit Hannah Arendt zu sprechen: „Eine Gesellschaft, die sich blind der Notwendigkeit der in ihr selbst beschlossenen Gesetze anheimgibt, kann immer nur untergehen. (…) Das Wunder ist immer die Rettung und nicht der Untergang; denn nur die Rettung, und nicht der Untergang, hängt von der Freiheit des Menschen ab und seiner Kapazität, die Welt und ihren natürlichen Ablauf zu ändern.“7

„Das Wunder ist immer die Rettung und nicht der Untergang; denn nur die Rettung, und nicht der Untergang, hängt von der Freiheit des Menschen ab und seiner Kapazität, die Welt und ihren natürlichen Ablauf zu ändern.“
Hannah Arendt

Ob es der richtige Zeitpunkt ist, um über Tiere zu schreiben, frage ich mich. Angesichts der alten und neuen Unterdrückungsregime gegenüber Frauen, angesichts dieser Kriege, angesichts dieser umfassenden Zerstörungswut. Aber es ist leider kein gänzlich anderes, abtrennbares Thema. Die Gewalt, die durch Kriege immer wieder gewöhnlich wird, ist die gewöhnliche Gewalt, die Tieren gewohnheitsmäßig angetan wird. Es gibt Zusammenhänge, wie den der Mitleidslosigkeit. Sie hat dieselben Ursprünge und Ursachen für Menschen wie für Tiere.

Ob es so etwas wie Tierethik überhaupt gibt, frage ich mich auch. Oder ob es nicht eine begriffliche Ablenkung ist. Geht es doch immer um unser Handeln, um ein menschliches Handeln gegenüber anderen Lebewesen. Die dieselbe Daseinsberechtigung haben wie wir, dieselben Rechte zur Entfaltung ihres Lebens. Wie wir über sie denken, und wie wir über sie sprechen, ist untrennbar verbunden damit, wie wir mit ihnen umgehen und hat existenzielle Folgen für sie.

Erst ein von Voreinstellungen gelöstes Denken ermöglicht es, die nicht mehr länger als seelenlos und bewusstseinslos gedachten Lebewesen zu erforschen, ihre Intelligenz und ihr soziales Vermögen zu entdecken, und dabei auf die erstaunlichsten Fähigkeiten und Begabungen zu treffen. Mehr Kenntnis von den Tieren führt zu mehr Respekt, zu mehr Achtung – das ist die Hoffnung, und rettet mitunter ihr Überleben. Auch modernste Technologien, verfeinert genug, um die oft vielfach verfeinerte Intelligenz der anderen begreifen zu können, helfen dafür. Technologien, die so oft ihr Leben beschnitten haben.

Ich denke an die Tierversuche, denen besonders die Neuromedizin ihre meisten Erkenntnisse verdankt. Und ich – hier und jetzt, das Leben meiner Mutter. Die Verdienste der Tiere wenigstens zu würdigen, hilft, um die Mittel zu haben, die sie in den Versuchslaboren ersetzen können. Wir stehen auch hier am Anfang.

Nach Martha Nussbaum leben wir in einer Zeit „großen Erwachens, in der wir uns unserer Verwandtschaft mit einer Welt bemerkenswerter intelligenter Geschöpfe bewusst werden“, so die Philosophin in ihrem Buch „Gerechtigkeit für Tiere“.8

Zuletzt frage ich mich auch: Sollten wir den Zeitpunkt der Themen, die wir ergreifen – (die ohnehin uns ergreifen) danach abstimmen, mit welcher Zeit wir es gerade zu tun haben? Das hieße, vom Stand des zivilisatorischen Fortschritts abzurücken, dem Wind, der uns entgegenbläst, nachzugeben, uns abzukehren. Anfänge zu setzen bedeutet ja, eine beständige Korrektur von Irrtümern vorzunehmen, kategoriale Irrtümer zu versetzen, die wie die Kräfte der Plattentektonik unsere Wahrnehmung – und damit die Realität der Welt bestimmen.

Die Trennung von Subjekt und Objekt, von rationalem Verstand und einem „irrationalen“ Körper, von Mensch und Tier, von Frau und Mann, von Natur und Kultur. Herabsetzungen, mit leidvollen Konsequenzen. Die Sprache ist voller Irrtümer, auch durchaus bewusst gehaltener; Menschen profitieren von ihren Irrtümern. Sie ist der Ursprung für die eingeübte Mitleidslosigkeit, sie wirft noch Profit ab.

Anfänge setzen bedeutet, immer wieder eine Sprache zu finden, die losgelöst ist von Bedingungen, die häufig gewaltvoll sind. Es bedeutet andere Realitäten zu finden und zu erschaffen, aufgrund eines umfänglicheren und offenherzigeren Wissens. Es bedeutet Arbeit, es bedeutet das Durchbohren von Gesteinsplatten mit Präzisionsgeräten, Arbeit, die in der Wissenschaft, in der Forschung, in der Kunst, in der Literatur beständig unternommen wird. Und dann ist sie da, eine neue Erkenntnis, in aller Selbstverständlichkeit kommt sie daher, und ist doch ganz und gar neu. Ein Anfang.

Wir sind nicht allein und schreiben nicht in eine leere Welt, sondern in einen Resonanzraum. Auch stehen wir in einer Verabredung mit den Lesenden und mit einem Publikum.

Es geht auch um die Frage: An wen richten wir uns beim Schreiben? Wenn nicht an die, die uns lesen. An die, die da sind, die ins Theater gekommen sind. Auch sie setzen auf Anfänge – und damit auf uns. Darauf, dass etwas in Bewegung gerät, das nicht einfach nur der Schwerkraft folgt. Sie setzen auf uns, auf das kritische Intervenieren von Literatur. Auf das Theater und seine fortwährende Verhandlung um ein Individuum inmitten anderer Individuen – inmitten einer Meute, inmitten einer Gemeinschaft. Was als Gemeinschaft oder Meute erkennbar wird, zeigt sich im Hier und Jetzt einer Bühne, beim Sprechen, beim Handeln.

„Was, wenn mein Staat nicht menschlich ist?“

Ein einfacher Satz mit bewusster Naivität stellt die Selbstgewissheit des Gegebenen in Frage. „Was, wenn mein Staat nicht menschlich ist?“

Das fragt einer der „Illegalen Helfer“ im gleichnamigen Stück, das Menschen porträtiert, die ihre Phantasie, ihre Kraft, ihre Zeit für die Hilfe von Geflüchteten aufbringen, und zwar dort, wo der Staat die Hilfe verweigert bzw. sie sogar unter Strafe stellt. Manche handeln im Verborgenen, gefährden ihren Beruf oder riskieren, im Gefängnis zu landen. Andere treten auch als Aktivisten öffentlich auf, klagen die Einhaltung von Menschenrechten an, stecken Diffamierungen, Geldstrafen, Haftstrafen ein und müssen sich ein hartes Fell zulegen. Ihre Geschichten sind so unterschiedlich wie ergreifend. Ihrer Menschlichkeit zu begegnen, die ganz bescheiden daherkam und die keine Identitätspolitik kannte, hat mein Leben verändert.

Die AfD wollte es verhindern. Mit der Ansage, das Stück feiere „Gesetzesbrecher“, ging ein Brief an sämtliche Zeitungsredaktionen Deutschlands mit der Aufforderung, seine Inszenierung abzusetzen. Zur Premiere musste Polizeischutz angeordnet werden. Nach der zweiten Vorstellung war ein Publikumsgespräch mit mir, der Autorin angekündigt. Ich wartete im Foyer. Der Dramaturg flüsterte mir ins Ohr, dass eine AfD-Delegation im Publikum saß. Ich wartete noch immer. Die Vorstellung war zu Ende, aber im Theater erhob sich das Publikum zu einem 20minütigen Klatschen. Die Standing Ovations galten dem Stück und sie galten dem Theater. Die Zuschauer verteidigten das Theater als den öffentlichen Ort, an dem die wichtigen Fragen der Zeit verhandelt wurden. Sie verteidigten ihr Theater. Die AfD-Delegation verzog sich schweigend.

Mit dem ersten Wort, das ein kleines Mädchen unterm Sternenhimmel aussprach, möchte ich aufhören. Nacht für Nacht wurde es von ihrer Fluchthelferin aus dem Zimmer, in dem es seit seiner Geburt zusammen mit den Eltern versteckt gehalten wurde, in den Innenhof des Kirchenasyls gebracht, damit sie ein wenig von der Welt sah. Hier begann ihre Sprache, und hier war jemand, der sich daran erinnerte, wie ihr erstes Wort lautete: „Mond“.

Die Audio-Version dieses Textes wurde von Maxi Obexer eingesprochen.

Maxi Obexer schreibt Theaterstücke, Prosa, Essays und Hörspiele zu aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen. Die Themen Flucht und Migration ziehen sich wie ein roter Faden durch ihr literarisches Schaffen. Als Gastprofessorin lehrt sie seit 2009 u.a. an der Georgetown University in Washington, an der Universität der Künste in Berlin, sowie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Ihr literarisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet, 2023 erhielt sie den Alice-Salomon-Poetik-Preis, vor kurzem wurde ihr Hörspiel „Im Auge des Sturms. Das Kapitol im Januar 2021“ zum Hörspiel des Jahres 2024 ernannt. Obexer wurde in Italien geboren und lebt heute in Berlin.


Fußnoten

  1. 1 ) DE: „Unsere Ethik in der realen Welt zu praktizieren bedeutet, sie ständig zu überprüfen und einzusehen, dass die Zonen unserer ethischen Grundsätze keine festen Grenzen haben und sich von Augenblick zu Augenblick erweitern und verkleinern können, je nachdem, was die Situation erfordert.“
    Zadie Smith: Shibboleth. Essay. New Yorker, Mai 2024
  2. 2 ) Hannah Arendt: Vita activa. Oder vom tätigen Leben. Piper 1967, S. 250
  3. 3 ) Hannah Arendt: Ebda. S. 217
  4. 4 ) Hannah Arendt: Ebda. S. 216
  5. 5 ) Céline Sciamma: Towards an inclusive Screenwriting. In: Jess King: Inclusive Screenwriting for Film and Television. Routledge, 2022.
  6. 6 ) Ursula K. Le Guin. Am Anfang war der Beutel. ThinkOya 2020. Übersetzt von Matthias Fersterer
  7. 7 ) Hannah Arendt: Sechs Essays, Die verborgene Tradition. Kritische Gesamtausgabe Bd.3
    hg.v. Barbara Hahn. Wallstein Verlag 2019. S. 103 f.
  8. 8 ) Martha Nussbaum: „Gerechtigkeit für Tiere. Unsere kollektive Verantwortung.“ Aus dem Englischen von Manfred Weltecke. WBG Theiss 2023