
Htein Lin
000235
Am 8. August 1988 entfachte eine Studierendenbewegung im heutigen Myanmar einen landesweiten Volksaufstand. Dieser wurde bekannt unter der Bezeichnung „8888“. Htein Lin war damals Jurastudent und an den Protesten beteiligt. Die gewaltsame Niederschlagung des Aufstands zwang ihn zur Flucht nach Indien in den Dschungel. Es war hier, dass der Künstler Sitt Nyein Aye aus Mandalay Htein Lin auf dem Waldboden zeichnend in Kunst und Kunstgeschichte unterrichtete. Beide führten philosophische Gespräche über mögliche Wege ihres Landes in die Freiheit. Während Sitt Nyein Aye den künstlerischen Weg für den einzig richtigen hielt, vertrat Htein Lin die Ansicht (so wie heute viele myanmarische Aufständische der Generation Z), dass militärische Gewalt mit Gewalt besiegt werden müsse.
Als sich die indische Politik 1991 veränderte, entschied sich Htein Lin in ein anderes studentisches Rebell*innenlager zu gehen, das in Myanmar unweit der chinesischen Grenze lag. Dies erwies sich als verhängnisvoll, denn einige der Aufständischen beschuldigten ihre Kommiliton*innen, Spitzel zu sein, und folterten sie mehrere Monate. Htein Lin konnte entkommen, im Gegensatz zu etwa 35 seiner Mitgefangenen. Viele wurden von „Kamerad*innen“ hingerichtet. Nach diesen Erfahrungen entsann er sich der Worte Sitt Nywein Ayes und wählte das Leben eines Künstlers.
Bei seiner Flucht über die chinesische Grenze wurde er erneut gefangen genommen und dem myanmarischen Militärregime übergeben. Diesmal konnte Htein Lin an die Universität zurückkehren, sein Jurastudium abschließen und sich seinem künstlerischen Schaffen widmen. Doch 1998 wurde er gemeinsam mit anderen unter der falschen Anschuldigung, eine Protestaktion geplant zu haben, verhaftet und zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt.
Während seiner Haft war Htein Lin entschlossen, sein Leben als Künstler fortzuführen. Er arrangierte den Schmuggel von Farbe ins Gefängnis. An Pinsel zu gelangen, war schwieriger, weshalb er sich Druckverfahren zuwandte und dafür das Rädchen eines Feuerzeugs, alte Fischernetze und Plastikfetzen sowie Teller, Seife und entsorgte Blisterpackungen verwendete. Anstelle von Leinwand benutzte er den weißen Baumwollstoff der Häftlingskleidung. Gefängniswärter, mit denen er sich angefreundet hatte, schmuggelten seine Kunstwerke mit Darstellungen des Haftalltags hinaus an seine Familie. Nach Htein Lins Entlassung wurden die „Gefängnisbilder“ 2005 ein einziges Mal in Myanmar ausgestellt – in einem unauffälligen Vorstadthaus, wo zahlreiche ehemalige Häftlinge und befreundete Künstler*innen sie besichtigen konnten –, bevor sie außer Landes in Sicherheit gebracht wurden. Der Titel der Werkserie geht auf die Nummer zurück, die dem Künstler von Vertreter*innen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz bei ihrem Besuch im Mandalay-Gefängnis zugewiesen worden war: 000235.
Noch immer beschäftigen mich die philosophischen Gespräche der beiden Künstler im Wald. Mit ihnen verbindet sich die Frage, ob man Widerstand leisten soll, und wenn ja, welcher Weg dann zu beschreiten wäre. Was ist der Preis der Gewalt und was steht beim Pazifismus auf dem Spiel? Worin liegt der von Sitt Nyein Aye beschriebene Weg des Künstlers oder der Künstlerin? Und welche Art von politischem Engagement kann künstlerisches Denken hervorrufen?
Zasha Colah – Kuratorin der 13. Berlin Biennale
Die Kulturstiftung des Bundes fördert die Berlin Biennale seit 2008 als „Kulturellen Leuchtturm“.

SHADOW OF HOPE
Im Gefängnis wurden rechteckige Blöcke gelber Seife aus Staatsproduktion an uns ausgegeben. Ich überredete einige meiner Zellengenossen dazu, mir ihre zu geben, sodass ich mit der Bearbeitung der Seifenblöcke experimentieren und sie zum Drucken verwenden konnte. Eines Tages erfuhren wir von dem anstehenden Besuch des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Da ich mir nicht sicher war, ob dessen Vertreter Burmesisch sprachen, schnitzte ich die Figur eines in eine Zelle eingesperrten Häftlings. Ich wollte sie dem Besucher übergeben, der jedoch laut sagte, dass er nichts annehmen könne, während er verstohlen auf seine Tasche zeigte. Inzwischen befindet sich der Seifenblock im IKRK-Museum in Genf.
Das IKRK teilte uns Nummern zu: Meine lautete 000235.
Htein Lin


GLOOMY ROOM 3
Diese Arbeit entstand anhand der Technik der Monotypie. Unter Verwendung eines Tellers wurden die Gesichter von Häftlingen in ihren Zellen gedruckt. In den Augen und Mündern erscheinen Gitterstäbe. Für den Druck von Füßen und Armen, die die Wände der Gefängniszellen bilden, benutzte ich den Kunststoffeinsatz eines Hemdkragens.
Htein Lin


MOSAIC BIRD
Bei dieser halb abstrahierten Darstellung entstanden die Gefängnistore mithilfe von Glasscherben. Der Fuß eines Metalltellers sowie die Schüssel, die ich für Linsensuppe (Dhal) benutzte, dienten zum Druck der Kreisformen. Zum Malen verwendete ich eine Mischung aus Klebstoff und Vinyl-Wandfarbe, die mir die Gefängniswärter brachten (für sie waren alle Farben gleich). Zudem benutzte ich einen kleinen Spiegel und die Verschlusskappen von Zahnpastatuben und trug Linien, die Freiheit symbolisieren, anhand einer aus dem Gefängniskrankenhaus herausgeschmuggelten Spritze auf. Im Bild sind Fliegen und weitere geflügelte Gestalten zu sehen.
Htein Lin


SELF-TORTURE FOR SIX YEARS
Inspiriert ist dieses Gemälde von einer Episode aus dem Leben Buddhas, als dieser auf der Suche nach Erleuchtung sechs Jahre lang in einer Höhle in Dungeswari (Mahakala), 12 km von Bodhgaya entfernt, lebte. Dort meditierte er und unterwarf sich großen Entbehrungen. So soll er fastend nur ein einziges Reiskorn am Tag zu sich genommen haben, bis er seine Wirbelsäule spüren konnte, wenn er die Hand auf den Bauch legte. Auch pflegte er, auf Dornenbüschen zu sitzen. Er kam damals dem Tode nahe. Daraufhin erkannte er, dass all seine Askese kontraproduktiv für die Suche nach Wahrheit war, und schlug stattdessen den Weg der Mitte ein.
Htein Lin


THE ESCAPING SOUL
Dieses Werk entstand im Mandalay-Gefängnis auf einem meiner alten „longyis“*. Eine kleine Tasche, die zum Verstecken von Papieren diente, befand sich am unteren Saum des „longyi“, wo sie bei einer Durchsuchung nicht entdeckt würde. Diese Tasche wurde zum Motiv des Gesichtes. Die blauen Totenköpfe druckte ich mit bearbeiteten Seifenblöcken und weitere Bildelemente mit einem Feuerzeug und Rasierklingen.
* Traditionelle Wickelröcke in Myanmar (Anm. d. Übers.)
Htein Lin


RETURN FROM THE CHAIN GANG
Anders als politische Häftlinge wurden reguläre Strafgefangene, sofern sie sich nicht freikaufen konnten oder selbst Verletzungen zufügten, um freigestellt zu werden, zur Zwangsarbeit abgeordnet und mit Ketten um Taille und Fußknöchel gefesselt. Wenn – beziehungsweise falls – sie zurückkehrten, waren sie ausgezehrt.
Htein Lin


WAR AND PEACE
Seinen Ausgang hatte dieses Gemälde in einer Bleistiftzeichnung, die für eine unserer Gefängniszeitschriften entstand. Ich schuf sie als Illustration für ein Gedicht meines Freundes und Zellengenossen, des Poeten Maung Tin Thit. Sein Gedicht handelte davon, dass Bombenhülsen des Zweiten Weltkriegs in Burma traditionell als Blumenvasen benutzt und auf Buddha-Altären aufgestellt wurden. Inzwischen sind zwar keine originalen Bombenhülsen mehr verfügbar, doch fertigen die Töpfer weiterhin Vasen in derselben Form an. In seinem Gedicht gedenkt Maung Tin Thit der unbekannten Anzahl von Toten, die diese Bomben gefordert haben. Mein Gemälde zeigt Rosen mit totenkopfgleichen Blüten und weinenden Blättern sowie vom Altar herabtropfendes Blut. Für die weiße Modellierung der Totenschädel benutzte ich eine Zahnbürste und einen Korrekturstift.
Htein Lin


WAITING FOR FATHER
Am 31. Mai 1998 kam um Mitternacht die Obrigkeit und verhaftete mich in dem kleinen Haus, in dem ich gemeinsam mit meiner Frau lebte, die als Näherin arbeitete. Meine 18 Monate alte Tochter schlief. „Waiting for Father“ malte ich fast zwei Jahre nach meiner Verhaftung und stellte mir dabei meine Familie vor, die auf meine Rückkehr wartete. Ihr Ansehen in der Nachbarschaft würde darunter leiden, dass der Vater abwesend war, und so malte ich dieses kleinformatige Bild. Hierfür benutzte ich einen Stock und Ölfarben. Die Baumwolle stammte von einem dünnen Hemd und ließ sich nur mit großer Mühe bemalen.
Htein Lin
