Erschütterbar
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Wie wird und wie bleibt
man ein Klassiker?
Ein Blick auf Thomas Mann
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Als der große deutsche Schriftsteller und Nobelpreisträger Thomas Mann hundert Jahre alt geworden wäre, im Jahre 1975 also, da verzweifelte Marcel Reich-Ranicki, der damals wichtigste deutsche Literaturkritiker an ihm. Nein, er verzweifelte, genau genommen, an den Reaktionen auf ihn: Thomas Mann schien zum leblosen Klassiker geworden zu sein – niemand, den Reich-Ranicki anfragte, wollte ihn feiern.
Thomas Mann war der große Ungeliebte geworden. Besonders drastisch war die Absage des Autoren Hans Erich Nossack. Er schrieb: „Die Prosa von Thomas Mann ist mir seit jeher so konträr, dass ich seine Bücher nur aus Bildungsgründen und nur mit größter Mühe lesen kann. Thomas Mann ist mir sozusagen ein Beispiel dafür, wie man auf keinen Fall schreiben kann.“ Und Hannah Arendt, die große Philosophin, antwortete: „Was nun Thomas Mann betrifft, so gehöre ich zu den Leuten, denen er wirklich sehr wenig bedeutet.“ So also die Lage Thomas Manns im Jahre 1975.
Schon zu Lebzeiten fand Thomas Mann zwar Millionen Leser für die „Buddenbrooks“ und den „Zauberberg“, aber die lieben Kollegen schmähten ihn – und zwar eigentlich alle: Bertolt Brecht schrieb 1931 ein Spottgedicht, Robert Musil lästerte über den „Großschriftsteller“, Joseph Roth sagte, dass er „schlechter denkt als er schreibt“ und Gottfried Benn nannte ihn einen „zerfetzten Intellektuellen“.
Es gab also von Anfang an bei Thomas Mann ein großes Bedürfnis, diesen Dichter, der so auf Form und Stil bedacht war, vom geputzten Sockel zu stoßen.
Es gab also von Anfang an bei Thomas Mann ein großes Bedürfnis, diesen Dichter, der so auf Form und Stil bedacht war, vom geputzten Sockel zu stoßen. Bei den Zeitgenossen, die unter seinem Ruhm und seiner Ehrpusseligkeit zu leiden hatten – und genauso bei den Nachgeborenen, die seine Existenzform als „Repräsentant“ und als „Dichterfürst“ ins Lächerliche zu ziehen versuchten.
Heute, 2025 hingegen, scheint Thomas Manns Stellung als Klassiker unerschütterbar – als im vergangenen Jahr das hundertjährige Erscheinen seines „Zauberbergs“ gefeiert und in diesem sein 150. Geburtstag, da schien es, als entdecke nun plötzlich auch die junge Generation diesen Schriftsteller neu für sich, als habe sie Lust, sich in seinen Sprachlabyrinthen zu verirren, als erkenne sie hinter den Fassaden und Masken seiner Persönlichkeit auch all die Gefährdungen und Abgründe. Man schaue nur in die Ausgabe der „Neuen Rundschau“ (2024/3), die der Aktualität des „Zauberbergs“ durch zahlreiche neue Besteigungsversuche unterstrich. So entwickelt die Autorin Merve Emre darin die aufregende These, dass es Clawdia Chauchat ist, die die Funktion einer Pädagogin für Hans Castorp übernimmt und dass ihre Erziehung in Wahrheit viel anspruchsvoller ist als die der beiden berühmten Alphamänner Naphta und Settembrini. Und Sarah Pines sieht in den Räumen des Sanatoriums auf dem Zauberberg eigentlich schon das ganze 20. Jahrhundert ausgemessen. Eine neue Generation also folgt einer Spur der Neugier, die Susan Sontag gelegt hatte, die Thomas Mann früh persönlich kennenlernte und der sie lebenslang nicht losließ, weil mit ihm „ganz Europa in meinen Kopf stürzte“.
Wie konnte das passieren? Wie konnte „Der Ungeliebte“, wie ihn Marcel Reich-Ranicki zu seinem 100. Geburtstag im Jahre 1975 noch nannte, plötzlich zu dem alles überstrahlenden Zentralgestirn der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts werden und alle anderen Schriftsteller in der allgemeinen Aufmerksamkeit in den Schatten stellen? Wie wurde aus dem leblosen, steifen Monument ein Autor von vitaler Ausstrahlungskraft?
Wie wurde aus dem leblosen, steifen Monument ein Autor
von vitaler Ausstrahlungskraft?
Thomas Mann selbst war es, der den Prozess seiner Entmonumentalisierung in Gang gesetzt – mit der Verfügung, dass seine Tagebücher zwanzig Jahre nach seinem Tod veröffentlicht werden durften. Und so erlebte eine verdutzte, verstörte, begeisterte, entgeisterte Öffentlichkeit ab dem Jahre 1977, als seine Tagebücher aus den Jahren 1918-1921 und dann ab 1933 nahezu ungeschönt erschienen, plötzlich einen ganz anderen Thomas Mann. Und was das bisherige Bild dieses Autors an Pathos und Veilchenduft verlor, das gewann es an Wahrhaftigkeit und, ja, Menschlichkeit dazu. Neben das Werk war plötzlich auch der Autor selbst getreten – und in dieser Doppelbödigkeit entfalteten plötzlich beide, also das Werk und der Mensch, ganz neue Dimensionen. Die Plakate, die der S. Fischer Verlag zum 150. Geburtstag Thomas Manns im letzten Jahr druckte, hängen plötzlich in den Buchhandlungen und Studenten-WGs der ganzen Republik: „Ging nach dem Frühstück wieder zu Bette“ steht da etwa oder „Wenig erquickliche Nacht. Das Partywesen verwünscht.“
Alles herrliche Funde aus seinen Tagebüchern, diesen Dokumenten einer fast grotesken Selbstbezüglichkeit, die jedes Anzeichen eines aufkommenden Hals- oder Weltschmerzes verzeichnen. Auch Thomas Manns Aufwand, lebenslang seine Homosexualität zu unterdrücken, wurde sichtbar. Ja, seine Ängste machten die ganze Verletzlichkeit hinter seiner scheinbar pompösen Dichterexistenz schonungslos sichtbar. Man sah plötzlich nicht nur das Monument, sondern einen alten Mann täglich mit der Fassung ringen.
Und genau an diesem Punkt seiner Existenz konnte auch ich erstmals selbst diesem Klassiker nahekommen, um den ich zuvor in meinem Schreiben immer einen weiten Bogen gemacht hatte. Denn das ist das große Problem von Klassikern. Sie erreichen irgendwann eine Konfektionsgröße, die nicht mehr in ein normales Leben zu passen scheint.
So undurchdringlich und mit Ironie hermetisch abgeriegelt erschien mir zuvor sein Stil, zu erhaben sein Leben und Werk, zu „klassisch“, zu sehr auf die Form bedacht, im Schreiben wie im Leben, als dass ich glaubte, einen Blick auf sein Innerstes erhaschen und ihn für mich als Autoren und dann auch für meine Leserinnen und Leser beleben zu können. Doch als ich anfing, seine Tagebücher aus dem Jahre 1933 zu lesen, jenem Jahr also, in dem er Deutschland verlassen musste, in dem er leidet wie ein Hund, weil er nicht mehr zurückkann und weil die von ihm verachteten Nationalsozialisten die „deutsche Kultur“ für sich reklamieren, da lernte ich einen ganz neuen Thomas Mann kennen. Er weiß weder vor noch zurück. Er irrt wie ein Odysseus durch die Schweiz und Frankreich, elf Stationen umfasst sein erstes Jahr im Exil, er zieht von Hotel zu Hotel, ratlos, hilflos, suchend. Es ist berührend zu lesen, wie dieser große Mann schwankt, wie er nicht weiß, wo er sich ansiedeln soll und ob er sein Werk weiter in Deutschland erscheinen lassen darf/soll/kann/muss. Das zerreißt ihn. „Kann nicht recht essen und nicht schlafen, und der Gedanke eines vollständigen Umsturzes meiner Existenz, die Vorstellung, ins Exil gehen zu müssen, ein Siebenundfünfzigjähriger, der mit der Kulturüberlieferung und der Sprache eines Landes so tief verbunden, so sehr auf sie angewiesen ist, hält mich in ununterbrochener Erregung und Erschütterung.“ Vielleicht kann man nur Klassiker werden, wenn man in seinem Innern erschütterbar ist?
Vielleicht kann man nur Klassiker werden, wenn man in seinem Innern erschütterbar ist?
Und vielleicht musste sich die politische Großwetterlage im Jahre 2025 auf so dramatische Weise verändert haben, dass dieses Erschrecken Thomas Manns, plötzlich einer Demokratie beim Sterben zuzusehen, für mich nicht mehr ein historisches Phänomen bleiben konnte, sondern plötzlich wie eine reale Gefahr der Gegenwart wirkte? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mich diesem überlebensgroßen Thomas Mann über seine eigenen Aufzeichnungen des Jahres 1933 das erste Mal auf eine neue Weise nähern konnte, nicht auf Knieen der Verehrung, sondern mit offenen Augen und offenem Herzen, mit Gespür für deren Widersprüchlichkeit. Vielleicht ist das grundsätzlich keine schlechte Idee, wenn man jahrelang um die Klassiker herumschleicht und herumkriecht und sich wundert, warum sie sich einem nicht öffnen.
Und wenn man akzeptiert, dass jede Vergangenheit am Anfang auch nur ein Moment von unübersichtlicher Gegenwart war, wenn man also all die Brüche sieht, die das Leben von Thomas Mann hatte und vor allem auch die Verehrung für ihn, dann kann einen das auch neugieriger machen auf die Literatur und Kunst der eigenen Gegenwart – in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Denn auch jetzt, vor unseren Augen, entstehen gerade neue Klassiker. Ist das herrlich?